Rückenbeschwerden
Zuletzt revidiert: 08/2018 Letzte Änderung: 08/2018
Vorbemerkung
Diese Guideline beschäftigt sich mit Beschwerden der gesamten Wirbelsäule und ersetzt die bisherige Guideline Lumbago. Die unspezifischen Rückenschmerzen werden schwerpunktmässig behandelt, da sie in der hausärztlichen Praxis am häufigsten vorkommen. Aufgrund der Gemeinsamkeiten in Diagnostik und Therapie werden in Kapitel 2 und 3 unspezifische Schmerzen aller Wirbelsäulenregionen behandelt. In den darauf folgenden Kapiteln werden spezifische Beschwerden einzelner Wirbelsäulenregionen abgehandelt.
1. Epidemiologie, Einteilung, Therapiegrundsätze (1–3)
Epidemiologie/Verlauf
- Lumbale Rückenschmerzen sind sehr häufig (Lebenszeitprävalenz: 80 %), in der Mehrzahl der Fälle sind sie selbstlimitierend
- Lebenszeitprävalenz Nackenschmerzen 48,5 % (27), Frauen sind häufiger betroffen als Männer (28)
- Lebenszeitprävalenz thorakale Schmerzen: 12–31,7 % (32)
- In > 85 % ist der Kreuzschmerz unspezifisch (ohne eindeutige ursächliche Erkrankung/Schädigung)
- Rezidive sind häufig, nach erstmaligem Ereignis ist die Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv 4-fach erhöht
- Weniger als 1 % der hausärztlichen Patienten haben eine schwerwiegende Erkrankung (Tumor/Metastasen, Infektion). Praktisch alle dieser Patienten haben Risikofaktoren und/oder weitere Beschwerden
- Bei einer Befragung aus dem Jahre 2012 gaben im Mittel mehr als 33 % der Schweizer an, in den letzten 4 Wochen, an Rücken- und/oder Kreuzschmerzen gelitten zu haben (1)
- Unspezifische Rückenschmerzen können auf mechanische, d. h. Bewegungs- und Haltungsproblematiken hindeuten, es können sich aber auch psychosoziale Probleme dahinter verbergen, deren Behandlung den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst
- Spezifische Ursachen sind z. B. Spinalkanalstenose, Arthrose, Fraktur, Tumor, Infektion.
Einteilung
Tabelle 1: Einteilung von Rückenschmerzen (3)
Nach Dauer |
Nach Ursache |
|
|
Man unterscheidet zudem rezidivierende Schmerzen, die nach mindestens 6-monatiger symptomfreier Phase wieder akut werden (4).
Wichtige Behandlungsgrundsätze
- Erkennen von Warnhinweisen für gefährliche Verläufe bzw. organische Ursachen („Red Flags“) –> Abschnitt 2.2.
- Rasche Linderung der Schmerzen, damit Patienten ihren Alltagsaktivitäten schnellstmöglich wieder nachgehen können
- Aktives frühzeitiges Erfassung von Warnhinweisen für das Vorliegen psychosozialer Risikofaktoren („Yellow Flags“) –> Abschnitt 2.3.
- Prävention einer Chronifizierung (Förderung eines adäquaten Krankheitsverständnisses, Aktivierung)
- Vermeiden von überflüssigen diagnostischen Massnahmen
- Vermeiden einer Fixierung auf (Röntgen-, MRI-, CT-) Befunde, welche die Symptome nicht erklären.
Infografik: Kein Röntgenbild bei Rückenschmerzen in den ersten sechs Wochen
2. Diagnostik (1–3, 6)
2.1. Basisdiagnostik
Grundlegendes:
- Ziel der Diagnostik ist das Erkennen von spezifischen und damit potentiell gefährlichen Ursachen
- Wichtig: Ohne Verdacht auf eine spezifische Ursache der Wirbelsäulenbeschwerden ist eine weiterführende (bildgebende) Diagnostik i. d. R. nicht erforderlich!
- Die wiederholte ungezielte Röntgen/MRI/CT-Diagnostik führt meist nicht zu einer spezifischen Diagnose und fördert eine iatrogene Fixierung; sie erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass nicht indizierte chirurgische Eingriffe durchgeführt werden (9, 10)!
Anamnese
- Beginn der Schmerzen, tageszeitlicher Verlauf, Schmerzcharakteristika
- Lokalisation und Ausstrahlung (Arm/Bein): dermatombezogen oder dermatomübergreifend
- Auslösende, lindernde, verstärkende Faktoren (motorische Ausfälle oder Sensibilitätsstörungen)
- Frühere Episoden oder Vorerkrankungen (Neoplasie, Osteoporose)
- Anzeichen für spezifische, abklärungsbedürftige Ursachen (Red Flags)
- Psychosoziale Situation, Berufstätigkeit, sportliche Aktivität (Yellow Flags).
Inspektion und Funktionsprüfung
Tabelle 2: Inspektion und Funktionsprüfung bei Wirbelsäulenbeschwerden (nach[3])
Inspektion |
Palpation |
Beweglichkeit |
|
|
|
2.2. Hinweise auf spezifische Ursache
I. Wichtige Alarmzeichen für eine spezifische Ursache (Red Flags) (4, 11)
- Schwere neurologische Symptome (Blasenentleerungsstörungen, perianale Hypästhesien, Hyperreflexie, erhöhter Muskeltonus i. S. einer Spastik (nicht paravertebraler Hartspann), Koordinationsstörungen, progressive oder funktionell stark beeinträchtigende neurologische Ausfallsymptomatik trotz Therapie
- Konstanter Ruheschmerz, Nachtschmerzen, die zu nächtlichem Aufstehen zwingen
- Schlechter Allgemeinzustand (Fieber, Gewichtsverlust, Bewusstseinsveränderung)
- Symptompersistenz oder Zunahme trotz adäquater Therapie nach 4 Wochen
- Allgemeine Symptome, wie kürzlich aufgetretenes Fieber oder Schüttelfrost, Appetitlosigkeit, rasche Ermüdbarkeit, durchgemachte bakterielle Infektion
- Risikofaktoren für Osteoporose
Beachte: Warnsignale können auf Fraktur, Tumor, Infekt oder Radikulopathien hinweisen. Für jedes einzelne Merkmal sind Spezifität und Sensitivität aber gering (4, 5). Entscheidend für das weitere Vorgehen ist immer das klinische Gesamtbild, nicht unbedingt ein einzelner Faktor!
II. Anzeichen für degenerative Wirbelsäulenerkrankungen (s. Tabelle 3)
Tabelle 3: Kardinalsymptome verschiedener degenerativer Wirbelsäulenerkrankungen (nach: [6])
|
Typische Schmerzcharakteristika |
Weitere klinische Zeichen |
Bandscheibenvorfall |
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Facettengelenks-arthrose |
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Spinalkanalstenose |
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Spondylolisthese („Wirbelgleiten“) |
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III. Abklärungsempfehlungen bei Hinweis auf spezifische Ursache
Untersuchungen
Die Evaluation basiert im Wesentlichen auf bildgebenden Verfahren und ev. Laboruntersuchungen
- Basislabor: Hämatogramm, CRP, BSG, Alkalische Phosphatase (bei V. a. osteoplastische Metastasen)
- Spezielle Labordiagnostik: je nach vermuteter Ursache.
Dringlichkeit
Ergibt sich aus dem jeweiligen klinischen Bild. Wir empfehlen (in Anlehnung an NICE und American College of Physicians [7]) folgendes Vorgehen:
1. Notfallmässige Abklärung (MRI):
- Symptome eines Cauda equina-Syndroms
- Schwere neurologische Ausfälle (progrediente motorische Defizite)
- Verdacht auf Schub/Progression einer Multiplen Sklerose
- Notfallmässige Spitaleinweisung bei Verdacht auf bakterielle Meningitis (Fieber, Nackensteifigkeit, Bewusstseinsveränderung, Petechien) (8)!
Hinweis: Anzeichen für eine spinale Infektion finden sich nur bei 0,01 % der Patienten mit Rückenschmerzen beim Hausarzt.
2. Rasche Abklärung (Rx oder MRI/CT) bei:
- Anhalt für Tumor/Metastasen: Tumoranamnese (v. a. Mamma, Lunge, Prostata, Melanom, Niere, Schilddrüse) oder multiple Risikofaktoren für Tumor, stark verdächtige Klinik für ein Krebsleiden. Bei V. a. osteolytische Metastasen (z. B. bei Prostatakarzinom) ist ein CT zu favorisieren, osteoplastische Metastasen sind meist in der seitlichen Röntgenaufnahme erkennbar
- Anhalt für Fraktur: vorangegangenes Trauma, Risikofaktoren Osteoporose und höheres Lebensalter.
3. Nicht-dringliche Abklärung bei:
Radikulopathie:
- Bei Patienten mit leichteren neurologischen Befunden (z. B. Diskushernie mit Ischialgie, leichter Fussheberschwäche, fehlenden tiefen Sehnenreflexen, Anheben des Beines nicht vollständig möglich) soll zunächst ein konservativer Therapieversuch erfolgen (Besserung auch ohne Intervention häufig)
- Bei ausbleibender Besserung ist eine Bildgebung angezeigt, insbesondere wenn Eingriffe (z. B. Infiltration) oder eine Operation geplant sind.
Abklärung:
- MRI.
Verdacht auf Spinalkanalstenose
Symptome:
- Ältere Patienten, Schmerzen und Schwäche in den Beinen (welche das Stehen und Gehen auf kurze Zeit beschränken, Erholung beim Vornüberbeugen (Velofahren) oder einige Minuten nach Entlastung; Lasègue-Zeichen meist negativ, Beweglichkeit altersentsprechend nicht eingeschränkt (Finger-Boden-Abstand).
Abklärung:
- MRI.
Verdacht auf entzündliche Gelenkerkrankung (Spondylarthritis, M. Bechterew)
Symptome:
- Bei Patienten < 40 Jahre. Typische Symptome: Morgensteifigkeit (≥ 30 min), frühmorgendliches/nächtliches Erwachen wegen Kreuzschmerzen, alternierender Gesässschmerz, schleichender Beginn der Schmerzen. Schober-Test, laterale Flexion der LWS, Mennel-Test können pos. sein.
Abklärung:
- Röntgen der Iliosakralgelenke (z. B. Röntgen LWS und ISG), MRI (bei starkem klinischem Verdacht und unklaren Röntgenbildern)
- Labor: BSG/CRP, HLA-B27.
Verdacht auf extravertebragene Ursache
- Abdominelle und viszerale Prozesse, z. B. Cholezystitis, Pankreatitis
- Gefässveränderungen, z. B. Aortenaneurysma
- Engpasssyndrome, z. B. Thoracic-outlet-Syndrom
- Gynäkologische Ursachen, z. B. Endometriose
- Urologische Ursachen, z. B. Urolithiasis, Nierentumoren, perinephritische Abszesse
- Neurologische Erkrankungen, z. B. Polyneuropathien
- Psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen.
Abklärung:
- Je nach Krankheitsverdacht weiterführende Untersuchungen und/oder Überweisung an Spezialisten.
2.3. Abklärung des Chronifizierungsrisikos (Yellow Flags)
Risikofaktoren* für einen chronifizierten Schmerzverlauf sind:
- Depressivität, Distress (vor allem berufs-/arbeitsbezogen)
- Schmerzbezogene Kognitionen (z. B. Katastrophisieren, Angst-Vermeidungs-Verhalten)
- Passives Schmerzverhalten (z. B. ausgeprägtes Schon- und Vermeidungsverhalten)
- Überaktives Schmerzverhalten: beharrliche Arbeitsamkeit, Durchhalteverhalten
- Neigung zu Somatisierung
* (Nur) für die fett gedruckten RF besteht eine hohe Evidenz aus methodisch guten Studien.
Ausserdem (mit geringer Evidenz):
Von Patientenseite:
- Arbeitsunfähigkeit länger als 6 Wochen
- Art der Tätigkeit bzw. körperlichen Belastung (monotone schwere Arbeit, hohes Arbeitstempo, langes Sitzen, Lärm, Nässe etc.)
- Arbeitsplatzatmosphäre (Konflikte mit Vorgesetzten oder Mitarbeitern, fehlende Identifizierung mit Arbeit und/oder Betrieb, Mobbing)
- Angst vor schwerwiegender Erkrankung
- Psychosoziale Belastung im privaten Alltag
- Schlechte soziale Integration.
Von ärztlicher Seite:
- Überbewertung von radiologischen/somatischen Befunden
- Förderung passiver Therapiekonzepte
- Übertriebener Einsatz diagnostischer Hilfsmittel.
3. Therapie unspezifischer Rückenschmerzen
Die Therapie der unspezifischen Rückenschmerzen unterscheidet sich in den einzelnen Bereichen HWS, BWS und LWS nur geringfügig. Spezielle Unterschiede –> s. nachfolgende Kapitel.
Wichtige Behandlungsgrundsätze
- Rasche Linderung der Schmerzen, damit Patienten ihren Alltagsaktivitäten schnellstmöglich wieder nachgehen können
- Aktive frühzeitige Erfassung von Warnhinweisen für das Vorliegen psychosozialer Risikofaktoren (Yellow Flags)
- Prävention einer Chronifizierung (Förderung eines adäquaten Krankheitsverständnisses, Aktivierung)
- Vermeiden von überflüssigen diagnostischen Massnahmen
- Vermeiden einer Fixierung auf bildgebende Befunde, welche die Symptome nicht erklären.
Patientenberatung
- Information des Patienten über die gute Prognose auf Grund der hohen Selbstheilungschancen
- Hinweise auf ergonomisches Verhalten, Automobilisationsübungen und Motivation zur Bewegung; keine Bettruhe, keine Ruhigstellung!
- mediX Informationsblatt Automobilisationsübungen Wirbelsäule
- Frühzeitiges Ansprechen von Ängsten (Yellow Flags)
- Back to normal (Alltagsaktivitäten, berufliche Tätigkeit etc.).
Prävention
- Haltungskorrektur, Rückenschule, Kräftigung und regelmässige Bewegung wirken einer Chronifizierung und Rezidiven entgegen. Insbesondere die Förderung von Beweglichkeit sowie Kräftigungsübungen haben Studien zu Folge eine nachgewiesene (wenn auch moderate) präventive Wirkung (12)
- Massnahmen am Arbeitsplatz (ergonomische Gestaltung, Verhaltensprävention etc.).
3.1. Akute unspezifische Rückenschmerzen (0–4 Wochen)
Medikamentöse Therapie
- Analgetika und andere Medikamente können eingesetzt werden, um eine schnelle Schmerzfreiheit zu erzielen und die Beweglichkeit aufrecht zu erhhalten. Eine Aufstellung der zur Verfügung stehenden Medikamente –> siehe Tabelle 4.
Tabelle 4: Medikamente zur Behandlung akuter nicht spezifischer Rückenschmerzen
NSAR |
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Novalgin |
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COX-2-Inhibitoren
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Opioide |
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Muskelrelaxantien |
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Phytotherapeutika |
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Epidurale Steroidinjektionen oder Sakralblöcke |
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Orale Steroide
|
|
Hinweis: Paracetamol wird zur Behandlung unspezifischer Rückenschmerzen nicht empfohlen (nicht wirksamer als Placebo) (14).
Nicht-medikamentöse Therapie
- Akute unspezifische Rückenschmerzen müssen nicht zwingend rein medikamentös behandelt werden
- Nicht-medikamentöse Therapieformen –> siehe Tabelle 5.
Tabelle 5: Nicht-medikamentöse Therapie bei unspezifischen Rückenschmerzen (4)
Physiotherapie |
|
Progressive Muskelrelaxation |
|
Manualtherapie (inkl. Chiropraktik) |
|
Wärmeapplikation |
|
- Ohne (ausreichenden) Wirksamkeitsnachweis sind: Orthesen (Ausnahme: ev. kurzzeitig Halskrause bei akuten sehr schmerzhaften Radikulopathien [8]), Akupunktur (18), Interferenz-, Neural-, Lasertherapie, Kurzwellendiathermie, Massagen, PENS, TENS.
3.2. Subakute und chronische unspezifische Rückenschmerzen (> 4 Wochen)
Medikamentöse Therapie
Tabelle 6: Medikamentöse Behandlung bei subakuten und chronischen unspezifischen Rückenschmerzen
Analgetika |
|
Opiate |
|
Antidepressiva |
|
Antiepileptika |
|
Epidurale Steroidinfiltration oder Steroidstoss |
|
Infiltration von Triggerpunkten |
|
Nicht-medikamentöse (multimodale) Therapie
- Chronische Rückenschmerzen sind eine multifaktoriell bedingte Erkrankung, die bei Abklärung, Beurteilung und Therapie einen mehrdimensionalen Zugang erfordert (multimodale Behandlungsprogramme). Häufigkeit und Verlauf vergangener Schmerzschübe und die Berücksichtigung psychosozialer Aspekte sind wichtig.
Folgende Massnahmen können positive Effekte bewirken (in Studien wirksam/nützlich):
Bewegungs-therapie |
|
Wärmeapplikation |
|
„Mind Body Exercises" |
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Entspannungs-techniken |
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Verhaltens-therapie |
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Ergotherapie |
|
Massage |
|
Orthopädische Massnahmen |
|
Schlafkomfort |
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Manualtherapie/ Chiropraktik
|
|
Verbesserung der psychosozialen Faktoren (falls möglich) |
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Vermeidung von Schonung, Reintegration in den Arbeitsprozess |
Operation
- OP-Indikation: Diskushernie mit radikulären Zeichen bei ausgeprägter oder progredienter Parese und nicht therapierbaren Schmerzen (ansonsten gilt es, bei Diskushernien mit radikulärer Symptomatik die Zeitspanne bis zur Spontanheilung mittels guter Analgesie zu überbrücken (z. B. mit epiduralen Infiltrationen) (4, 8).
4. Beschwerden der HWS (Nackenschmerzen)
Definition, Epidemiologie
- Definition: Beschwerden der Halswirbelsäule werden definiert als Schmerzen im Schulter-Nackenbereich, deren untere Grenze der letzte Halswirbel bildet. Schulter- und Nackenschmerzen sind anamnestisch und klinisch schwer voneinander trennbar
- Es werden häufig Behandlungenverfahren verwendet, die zu schnellen Erfolgen führen, um die eigenen und die Patientenerwartungen zu erfüllen. Die Nachhaltigkeit dieser Massnahmen sind jedoch meist nur unzureichend belegt. Wichtig ist es jedoch, gefährliche Verläufe auszuschliessen und Schmerzen zu lindern (3).
Diagnostik
Hinweise für spezifische und gefährliche Verläufe (3):
- Trauma, Zustand nach Operation, neurologische Symptomatik (Radikulopathie, sensible oder motorische Ausfälle, Parästhesien, Meningismus, Bewusstseinsstörung, Kopfschmerzen mit Übelkeit, Erbrechen und Schwindel)
- Osteoporose, Langzeitmedikation mit Steroiden
- Hinweise auf extravertebrale Ursache (Fieber, Infektion) oder Systemerkrankung.
Zervikale Radikulopathie
Symptome:
- U. a. Schmerzen und/oder Sensibilitätsstörungen, motorische Einschränkungen oder Reflexabschwächung/-ausfall) die einer zervikalen Wurzel zugeordnet werden können (s. Tabelle 7) (8).
Ursachen:
- Degenerativ/traumatisch: Bandscheibenvorfälle (häufiger bei jüngeren Patienten) und degenerativ-knöcherne Veränderungen mit Einengung der Foramina intervertebralia (häufig bei älteren Patienten) (29, 30).
- Nicht-degenerativ: infektiöse Ursachen sind u. a. Herpes zoster, Borreliose, Tuberkulose, Syphilis. Postinfektiös durch Demyelinisierung: Guillain-Barré-Syndrom. Infiltrativ: Lymphome, Meningeosis carcinomatosa. Autoimmun: Vaskulitis, Diabetes mellitus mit Neuropathie.
Bildgebung:
- MRI der HWS.
Labor:
- Bei Verdacht auf Spondylodiszitis: Basislabor mit Entzündungsparametern
- Bei Verdacht auf Plexusneuritis oder Infektion des Nervensystems (Herpes Zoster, Borreliose oder Tuberkulose): zusätzlich Liquordiagnostik.
Tabelle 7: Leitsymptome zervikaler Wurzelkompressionssyndrome
Segment |
Bandscheibe |
Schmerz und/oder Hypästhesie |
Reflexabschwächung |
C5 |
C4/C5 |
Schulter und Oberarm lateral |
|
C6 |
C5/C6 |
Radialer Ober/Unterarm, Daumen, gelegentlich Teile des Zeigefingers radial |
Bizeps, Brachioradialis (Radiusperiost) |
C7 |
C6/C7 |
Unterarm dorsal, Zeige- und Mittelfinger |
Trizeps |
C8 |
C7/Th1 |
Unterarm dorsal, Ring- und Kleinfinger |
|
Therapie spezifischer Nackenschmerzen
- Bei Verdacht auf eine spezifische Ursache –> weitere Abklärung, v. a. Bildgebung und Laboruntersuchungen. Bei speziellen Fragestellungen ausserdem Elektrophysiologie und Liquorpunktion
- Überweisung an Spezialisten (je nach Fall Arzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Neurologe, Onkologe). Bei wahrscheinlicher Operationsindikation ist notfallmässig oder zeitnah an einen chirurgisch tätigen Spezialisten (Chirurg, Neurochirurg, Orthopäde) zu überweisen
- Notfälle: Bakterielle Meningitis, akute brachiofazial-betonte Hemiparese im Rahmen eines zerebrovaskulären Ereignisses (–> Stroke unit) (31).
5. Beschwerden der BWS
Definition
- Die Beschwerden treten der Anatomie entsprechend zwischen 1. und 12. Brustwirbel auf.
Diagnostik
Schmerzursachen:
- Degenerativ, wachstumsbedingt (M. Scheuermann), inflammatorisch und psychosoziale Belastungen (32)
- Thorakale Bandscheibenvorfälle sind selten (bei anhaltenden einseitigen Schmerzen daran denken [33]).
Differentialdiagnosen:
- U. a. akute internistische Erkrankungen wie Herzinfarkt, Aortendissektion oder Pulmonalarterienembolie, die klassischerweise mit Thoraxschmerzen und anderen mehr oder weniger spezifischen Symptomen einhergehen (s. mediX Guideline Thoraxschmerz); zudem können auch renale (z. B. Pyelonephritis) und gastrointestinale (z. B. Pankreatitis) Ursachen vorliegen. Davon abzugrenzen sind Erkrankungen, die mit muskuloskelettalen Schmerzen der Thoraxwand einhergehen (s. Tabelle 8). Isolierte Syndrome der Brustwand sind dabei von Erkrankungen systemischen Ursprungs abzugrenzen.
Tabelle 8: Ursachen von muskuloskelettalen Thoraxwandschmerzen (33)
Erkrankung |
Klinische Symptomatik |
Isolierte Syndrome |
|
Schmerzen der unteren Rippen (Lower rib pain) |
Schmerz im unteren Thorax oder oberen Abdomen, punktuelle Druckdolenz am Rippenbogen, Schmerz auf Druck reproduzierbar |
Interkostalneuralgie/ Posteriore Brustwandschmerzen |
Häufig Dysfunktion der costovertebralen Gelenke; selten Bandscheibenvorfall mit radikulärer Symptomatik, unilateral, dermatombezogen, DD Herpes zoster-Neuralgie! |
Costochondritis |
Druckdolenz multipel, costochondrale und costosternale Gelenke meist im oberen Thorax, keine Schwellung |
Tietze-Syndrom |
Schmerzhafte Schwellung, costochondrale, costosternale oder sternoclavikuläre Gelenke, meist nur 1 Gelenk betroffen, v. a. junge Erwachsene |
Rheumatische und systemische Erkrankungen |
|
Fibromyalgie |
Diffuse Schmerzen, "tender points", Brustkorb häufig mitbeteiligt; Schlafstörungen, Fatigue, assoziiert mit Angststörung und Depression |
M. Bechterew (Ankylosierende Spondylarthritis) |
Entzündungen der costovertebralen und costotransversalen Gelenke, Brustwirbelsäule häufig mitbeteiligt; klassisch lumbale Schmerzen, Steifigkeit, Sakroiliitis, selten auch Daktylitis, Uveitis |
Psoriasisarthritis |
Selten Beteiligung des Brustkorbs (z. B. sternoclaviculär); Spondylarthropathie, Polyarthritis, Nagelerkrankung, Daktylitis |
Systemischer Lupus erythematodes |
Druckdolenz der Muskeln und Gelenke der Brustwand ("pleuritisch"); systemische Autoimmunerkrankung mit Arthritis, Hautmanifestationen, Perikarditis, neurologischen Veränderungen, ANA positiv |
Osteoporose
Osteomalazie |
Erhöhte Frakturgefahr (auch Rippen); Risikofaktoren: Alter, weibliches Geschlecht, Kortisondauertherapie, chronische Nierenerkrankung u. a. Knochenschmerzen, Muskelschwäche, erhöhte AP und PTH, erniedrigtes Calcium und Vitamin D |
Tumore/Metastasen |
Selten primäre Tumore der Brustwand (Sarkome, multiples Myelom); lokale Metastasen von Lungen- und Mamma-Ca |
*Die fett markierten Erkrankungen sind durch höhere Prävalenzen klinisch bedeutsamer
Therapie spezifischer thorakaler Schmerzen
- Richtet sich nach der Ursache. Spezifische Ursachen sollten durch einen Spezialisten weiter abgeklärt und ggfls. behandelt werden
- Bei der Therapie von isolierten Syndromen (Tabelle 8) der Thoraxwand –> s. Therapievorschläge in Kapitel 3.
6. Beschwerden der LWS (Kreuzschmerzen)
Definition und Epidemiologie
- Kreuzschmerzen sind definiert als Schmerzen unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der Gesässfalten, mit oder ohne Ausstrahlung. Begleitend können weitere Beschwerden vorhanden sein (4)
- Laut Global Burden of Disease Study von 2010 sind Kreuzschmerzen weltweit der häufigste Grund für eine Arbeitsunfähigkeit (34)
- In der Mehrzahl der Fälle sind Kreuzschmerzen selbstlimitierend, > 85 % der Kreuzschmerzen sind auf unspezifische Ursachen zurückführbar
- Rezidive sind häufig, nach erstmaligem Ereignis ist die Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv 4-fach erhöht
- Praktisch alle dieser Patienten haben Risikofaktoren und/oder weitere Beschwerden
- Mehr als 30 % der Patienten mit (nicht-radikulärem) chronischem Kreuzschmerz können innert 12 Monaten von ihren Schmerzen befreit werden
- Die Prognose ist ungünstiger bei Patienten mit ausgeprägter Behinderung, hoher Schmerzintensität, geringer Bildung und bei jenen, die sich selbst eine ungünstige Prognose geben (35).
Diagnostik spezifischer lumbaler Rückenschmerzen
- Hinweise auf eine spezifische Ursache der Rückenschmerzen im Lendenbereich ergeben sich aus der Anamnese und der klinischen Untersuchung (s. a. Kapitel 2).
Untersuchung des Iliosakralgelenkes
- Schmerzin der Glutealregion, ev. ausstrahlend in Gesäss und Oberschenkel –> Schmerzpalpation, Schmerzprovokation durch Kompression des Gelenks.
Neurologische Untersuchung bei radikulären Symptomen (s. a. Abbildung 1):
- Muskelkraft
- Dorsalflexion Zehen und Plantarflexion d. Fusses gegen Widerstand (L5/S1)
- Knieextension (L4)
- Hüftadduktion (L3)
- Hüftflexion (L1–2).
- Sensibilitätsprüfung Gesäss und untere Extremität (Bestreichen d. Haut)
- Muskeleigenreflexe
- ASR (Ausfall/Abschwächung –> Schädigung S1)
- PSR (Ausfall/Abschwächung –> Schädigung L3–4)
- Babinski-Reflex (DD: zentrale Läsionen).
Abbildung 1: Untersuchungsbefunde der wichtigsten lumbosakralen Kompressionssyndrome (aus [4])
Therapie spezifischer lumbaler Rückenschmerzen
- Bei Hinweisen auf eine spezifische Ursache der lumbalen Rückenschmerzen sollte eine weitere Abklärung zeitnah mittels Bildgebung, ggfls. Labor und Überweisung an einen Spezialisten erfolgen
- Spezifische Ursachen sind z. B. Radikulopathie, Spinalkanalstenose oder Facettengelenksarthrose
- Notfall: Cauda-equina-Syndrom –> sofortige Spitaleinweisung.
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8. Impressum
Diese Guideline wurde im August 2018 erstellt.
© Verein mediX
Herausgeber
Dr. med. Felix Huber
Redaktion (verantwortlich)
Dr. med. Uwe Beise
Autoren
Dr. med. Hana Sajdl
Dr. med. Birgit Brüne
Rückmeldungen bitte an: uwe.beise_at_medix.ch
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